2021 hat die neue dreijährige Strategieperiode begonnen. Strategische Kernthemen – wie beispielsweise Elektromobilität, Digitalisierung oder erneuerbare Energien – sind zumeist langfristig angelegt. Daher begleiten sie das Unternehmen über mehr als eine Strategieperiode. Aktuell nimmt Freudenberg Sealing Technologies (FST) zusätzlich neue Schwerpunkte in den Blick. Dazu gehören unter anderem die Segmente Health & Safety sowie Pharmazie. Chief Executive Officer (CEO) Claus Möhlenkamp skizziert, wie FST diese Herausforderungen angeht.
Nach fast zwei Jahren Pandemie mit allen ihren wirtschaftlichen Höhen und Tiefen: Wie beendet FST das Jahr?
Die vergangenen Monate waren wirtschaftlich betrachtet eine Achterbahnfahrt. Zu Beginn der Pandemie Anfang 2020 waren unsere Umsätze dramatisch eingebrochen, doch wir sind schnell wieder aus der Talsohle herausgekommen und befanden uns bis zum Sommer 2021 wieder auf einem sehr guten Niveau. Seit Juli stellt sich die Lage aber völlig anders dar: Wir haben massiv mit Unterbrechungen der Lieferketten zu kämpfen, und zwar weltweit. Zunächst war primär die Automobilindustrie betroffen, weil die so dringend benötigten Chips plötzlich nicht mehr zur Verfügung standen. Inzwischen leiden jedoch alle Industrien weltweit unter den Lieferschwierigkeiten, so dass unsere Kunden und auch Lieferanten darauf reagieren müssen. Die Lieferengpässe sind mittlerweile nicht mehr nur auf Chips begrenzt, sondern es herrscht Mangel an vielen Materialien, Produkten und Dienstleistungen.

Was bedeutet das für unsere Prozesse, unsere Fertigungsabläufe?
Seit Juli erleben wir ungeplante Produktionsunterbrechungen – teilweise ohne vorherige Ankündigung. Von heute auf morgen gehen die Abnahmemengen in den Keller, dann wieder steil nach oben. Das heißt, bei uns stehen von jetzt auf nachher die Bänder still.
Für unsere Maschinen sind solche kurzfristigen Stopps verheerend, denn wir erreichen nicht mehr die gewohnte Produktivität. Wir versuchen, bestmöglich auf ungeplante Bedarfe und Kundenanforderungen zu reagieren. All das bleibt natürlich nicht ohne Einfluss auf die Kosten. Die Verantwortlichen in der Fertigung müssen ständig aufs Neue ihre Planungen umstellen. Wenn es schlimm läuft, nimmt der Kunde am Ende die Teile nicht ab, weil auch er ständig neu planen muss.
Was sind die Ursachen für diese massive Ressourcenverknappung?
Zu einem Teil mag sich das noch mit der Pandemie erklären lassen, aber es findet auch ein System- und Strukturwandel statt. Chemische Ausgangsstoffe, die wir benötigen, wandern auch in neue, völlig andere Endprodukte. Wahrscheinlich geht die aktuelle FKM-Verknappung, die uns besonders hart trifft, darauf zurück, dass ein im Material vorkommendes Monomer auch in der Batterie- und Brennstoffzellenfertigung benötigt wird. Wenn dem so ist, könnten die neuen Anwendungsfelder für die Hersteller attraktiver und profitabler sein – und wir damit ein langfristiges Problem haben.
Die Stahlhersteller fahren ihre Fertigungsmengen zurück. Es wird weniger produziert, dafür steigen die Preise. In den USA stehen die Stahlproduzenten vor der Herausforderung, dass der Stahl nachhaltig werden muss. Daher investieren sie nicht mehr in vorhandene Anlagen. Aber höhere Kapazitäten wären hier ebenso wie in der chemischen Industrie dringend nötig.
Wann wird die Ressourcenkrise vorbei sein?
Solche Prognosen sind schwierig. Manche Experten gehen davon aus, dass die Chipkrise 2021 endet, andere glauben nicht, dass dies vor 2023 der Fall sein wird. Ich fürchte, dass diese Krise uns 2022 hindurch begleiten wird. Wir selbst müssen uns in den nächsten ein bis zwei Jahren darauf konzentrieren, unsere Abläufe und Fertigungsprozesse wieder zu stabilisieren. Dazu benötigen wir auch ein starkes Lieferantenmanagement, damit wir die erforderlichen Materialien erhalten. Denn eigentlich sagen unsere Kunden uns steigende Bedarfe vorher.
Gelten die steigenden Bedarfe für alle Regionen?
Wir gehen davon aus, dass das weltweit der Fall sein wird. Wahrscheinlich werden 2021 sechs Millionen Autos aufgrund des Chipmangels nicht gebaut. Wir wissen, dass beispielsweise in Amerika die Lagerbestände von Fertigfahrzeugen auf unter 30 Tage gerutscht sind, davor waren es im Durchschnitt 65 Tage. Es gibt daher einen echten Nachfragestau, so dass die Industrie natürlich am liebsten die Fertigung hochfahren würde. Aber dafür sind ausreichend Materialien vonnöten. Was die aktuelle Krise gänzlich von anderen unterscheidet: Dieses Mal sitzen tatsächlich alle im gleichen Boot. Wir, unsere Dienstleister, unsere Kunden und Wettbewerber – alle kämpfen gegen den gleichen „Feind“: Den Ressourcenmangel.
Vorkrisenniveau oder nicht: Welche wirtschaftlichen Ziele hat sich FST für 2022 gesetzt?
Ich erwarte 2022 ein moderates Wachstum. Moderat deswegen, weil eben die aktuellen Lieferschwierigkeiten nicht über Nacht verschwinden werden. Dennoch wird sich die Wirtschaft wieder erholen. Unsere erste Planungsannahme für 2021 zeigt, dass wir das Niveau von 2019 wieder erreicht haben. Wir sind somit sehr viel schneller zurückgekommen, als wir ursprünglich erwartet hatten.
Neuesten Studien zufolge vollzieht sich die Transformation im Automobilgeschäft schneller als erwartet. Was heißt das für FST?
Diese Transformation nimmt deutlich an Geschwindigkeit zu. Wir verfügen heute über verlässliche Daten und verbindliche Statements von unseren Kunden. Sie wollen definitiv die Produktion von Verbrennern einstellen, auch wenn das Enddatum variiert. Die grundsätzliche Aussage ist jedoch klar: Die Transformation beschleunigt sich drastisch, vor allem in Europa. Auch in China vollzieht sich der Wandel schneller, wenngleich Europa momentan Vorreiter ist.
Wir müssen jetzt verstehen, über welche Zeiträume wir sprechen, um wie viele Fahrzeuge es geht und welcher Anteil unseres Geschäftsvolumens und unseres Portfolios betroffen ist. Wir haben schon sehr viel erreicht und können schon gute Erfolge vorweisen. Jetzt müssen wir unser Augenmerk verstärkt auf neue Technologien legen, unsere Ressourcen anders einsetzen und auch mal alte Zöpfe abschneiden. Das erfordert auch den Mut, manche Dinge nicht mehr weiterzuentwickeln.
Wenn der Kunde sagt, dass er bereits ab 2028 bestimmte Produkte von uns nicht mehr braucht, warum sollten wir dann noch in sie investieren und Ressourcen dafür vorhalten? Wir müssen unsere Ressourcen anders und zielgerichteter einsetzen und uns bewusst in Richtung Komponenten- und Modulproduzent entwickeln. Jetzt heißt es, die Chancen zu erkennen, die sich uns im Batterie- und Brennstoffzellengeschäft bieten, hier mehr zu investieren und das Tempo zu erhöhen.

Bedeuten die Ausstiegsszenarien, dass wir etwa ab Ende des Jahrzehnts keine Dichtungen für Verbrenner mehr fertigen werden?
Auf keinen Fall, Dichtungen für Verbrenner wird es noch lange geben, der Verbrennungsmotor wird noch lange nicht ausrangiert. Es gibt ja zum Beispiel auch Hybrid-Fahrzeuge. Wir bedienen unterschiedliche Käuferschichten, unterschiedliche Regionen wie Indien oder Afrika, in denen es den Verbrenner noch lange geben wird. Auch im Lkw sowie in Offroad-Anwendungen wird er noch weiter bestehen. Außerdem müssen wir noch viele Jahre lang den Ersatzteilmarkt beliefern, das läuft nicht von heute auf morgen aus.
Wie geht es mit der Industrialisierung des Brennstoffzellen- und Batteriegeschäfts voran?
In München haben wir gerade den zweiten Standort in Angriff genommen, wir bauen dort eine 30-Megawatt-Fertigung für Brennstoffzellen auf. Damit sind wir in der Lage, Prototypen bis zu einer Leistung von 30 Megawatt pro Jahr zu fertigen. Ab 2025 kann die Großserienproduktion beginnen. Schon jetzt steht fest, dass die verfügbare Kapazität dann nicht reichen wird und wir auf zwei Gigawatt erweitern. Das ist fast das Siebzigfache dessen, was wir heute schon können.
Damit nach diversen Ausbaustufen die Gigafactory ab 2026/2027 steht, müssen wir spätestens 2023 mit dem Bau beginnen. Wir führen zurzeit eine detaillierte Standortanalyse durch, wo wir ein solches Projekt umsetzen können, wo es die beste staatliche Förderung gibt, die Energiekosten günstig sind, wir sicherstellen können, dass wir genügend Mitarbeitende gewinnen können und wo gute Infrastrukturrahmenbedingungen gegeben sind. Das Werk soll in Europa entstehen, wünschenswerterweise räumlich nicht zu weit entfernt vom Entwicklungszentrum der Brennstoffzelle. Die Fabrikplanung läuft in Kürze an und im kommenden Jahr legen wir den Standort fest.
Ein Projekt in mindestens der gleichen Größenordnung planen wir für Batterien. Auch hier prüfen wir, wo wir eine Gigafactory aufbauen – mit vergleichbaren Vorgaben wie bei der Brennstoffzelle.
Auch ein E-Auto braucht – in antriebsunabhängigen Modulen – Dichtungen oder Produkte mit Zusatzfunktionen. Wie sieht unser Portfolio hier aus?
Wir gehen davon aus, dass 65 Prozent unserer heutigen Produkte im Auto, konkret in Motor und Getriebe, wegfallen. Das heißt im Umkehrschluss, dass 35 Prozent bleiben. Dazu zählen Klimaanlagenmodule, Bälge, Stoßdämpfer, Dichtungen für die Achse, Bremsen und so weiter – alles, was nicht dem Antriebsstrang zuzuordnen ist. In diesem Sektor sind wir Marktführer. Wichtig wird sein, dass wir die wegfallenden 65 Prozent mit Produkten für die neuen Technologien kompensieren können. Wir liefern beispielsweise Flachdichtungen und andere Dichtungen für Batterien und Brennstoffzellen. In Kufstein beschäftigen sich die Kollegen damit, welche Komponenten in der Brennstoffzelle stecken und was davon für FST neues Geschäft bringen kann. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass wir auch ein sehr gut funktionierendes Industriegeschäft haben. Hier wollen wir stark wachsen und können vieles ausgleichen, was uns an anderer Stelle verloren geht.
2021 hat eine neue dreijährige Strategieperiode begonnen. Nach knapp einem Jahr: Wo stehen wir?
Alle unsere strategischen Initiativen sind nach wie vor gültig. Unsere Strategieperioden sind zwar immer auf drei Jahre angelegt, aber kaum eines unserer Ziele hat nur kurzfristig Gültigkeit. Alle Ziele, die wir in der vergangenen Strategieperiode niedergeschrieben hatten, sind auch in der neuen enthalten. Mit Blick auf das, was wir im ersten Jahr erreicht haben, liegen wir perfekt im Zeitrahmen. Unsere Aktivitäten bei Batterie und Brennstoffzelle schreiten voran, unsere Digitalisierungsbestrebungen gehen weiter. Die bekannten Fokussegmente gelten weiterhin. Unterm Strich heißt das, dass wir 2021 die gesetzten Ziele erreichen werden, trotz der zuvor genannten Schwierigkeiten. Das ist das Schöne bei Freudenberg, dass wir trotz operativer Probleme unsere strategischen Projekte wie geplant fortführen können. Es gelten andere Fristen und wir setzen gegebenenfalls andere Prioritäten, aber es geht weiter.
Digitalisierung und Automatisierung sind auch weiterhin strategische Schwerpunktthemen für FST. Der letzten Umfrage zu den Guiding Principles zufolge sehen einige Mitarbeitende die Digitalisierung als
potenzielle Gefahr für ihren Arbeitsplatz. Wie gehen wir damit um?
Etwa ein Fünftel unserer Belegschaft hat in der Umfrage Bedenken geäußert, dass die Digitalisierung und Automatisierung ihre Arbeitsplätze gefährden könnte. Das ist eine völlig natürliche Reaktion während einer Transformation, wie wir sie gerade durchleben – sei es mit Blick auf die Robotik, sei es durch den Übergang vom Verbrenner auf die Elektromobilität. Solche Phasen rütteln immer auf, sie bergen Risiken, aber auch riesige Chancen, wie man gerade im Brennstoffzellengeschäft sieht. Einem Unternehmen wie uns muss es gelingen, die Menschen mitzunehmen. Natürlich ist die Grundfrage absolut berechtigt, ob das Auswirkungen auf Arbeitsplätze hat. Und ja, die hat es. In diesem Fall positive. Denn viele Prozesse werden künftig durch den technischen Fortschritt anders organisiert. Genau darin verbergen sich neue Chancen für unsere Mitarbeitenden.
FST hat auch die Segmente Health & Safety sowie Pharmazie in den strategischen Fokus genommen. Ist das der Pandemie geschuldet?
Nein, das ist es nicht. Vielleicht hat Corona unseren Blick geschärft dafür, dass diese Segmente langfristig wichtig sind, aber die Entscheidung hängt auch mit dem demografischen Wandel zusammen. Dieser Megatrend als solches sowie die stets zunehmende Weltbevölkerung bedingen eine steigende Nachfrage in den Bereichen Nahrungsmittel und Getränke, Gesundheit und Sicherheit sowie Pharmazie. Diese Segmente waren für uns schon immer interessant, standen aber noch nicht so sehr im Fokus. Jetzt möchten wir auch auf diesen Gebieten verstärkt Wachstum generieren.
Ein Ziel der neuen FST-Strategie lautet, bis 2025 30 Prozent CO2 in den Geschäftsprozessen einzusparen. Wie wollen wir das erreichen?
Das übergeordnete Ziel der Freudenberg-Gruppe ist eine 25-prozentige Reduktion. Da andere Business-Gruppen mehr Energiebedarf als wir haben, müssen wir 30 Prozent CO2 einsparen. Das ist aus unserer heutigen Sicht die richtige Hausnummer und auch machbar.
Bitte beenden Sie abschließend folgenden Satz: Die letzten eineinhalb Jahre …
… waren für alle unsere Mitarbeitenden sehr anspruchsvoll und sehr anstrengend. Sie haben – ob in der Fertigung oder im Büro – unter erschwerten Bedingungen Großes geleistet. Dafür möchte ich ihnen auch im Namen meiner Geschäftsleitungskollegen meinen herzlichen Dank aussprechen. Ihnen und ihren Familien wünsche ich ein frohes Weihnachtsfest, beste Gesundheit und alles Gute für das neue Jahr.